"Mensch Mädchen!" grüßte er freudestrahlend Richtung Tür, die gerade aufging.
Man könnte meinen, Herr Fischfein hätte sich extra für diesen Tag oder diese Stunde im Café so chic gemacht. Doch weit gefehlt.
Seit er denken konnte, verließ er das Haus nicht ohne ein frisch gewaschenes und gebügeltes Hemd und eine "anständige" Hose. "Sonst bin ich ja eine Zumutung für die Menschheit." antwortete er lachend, wenn man ihn auf sein gepflegtes Äußeres ansprach.
Hin und wieder wurde er von seiner Familie geneckt, weil er selbst bei hochsommerlichen Temperaturen dick eingepackt war. So trug er auch heute über Unterhemd und Hemd seine geliebte, graue Wollstrickjacke und lange, warme Socken, die er morgens wie immer sorgfältig bis zu den Kniekehlen hochgezogen hatte.
"Das ist ja eine Freude, dass du dich mit mir altem Mann hier triffst." Er erhob sich, drückte dem Gegenüber mit einem herzlichen Lächeln die Hand und verbeugte sich formvollendet. "Ich hoffe, du bist einverstanden, dass ich dich immer noch 'Mädchen' nenne." Er sei der einzige, der dies ungestraft dürfe, lautete die Antwort, woraufhin er schmunzeln musste und fortfuhr: "Komm, setz dich zu mir. Was darf ich dir bestellen?"
Auf die Frage, wie es ihm heute gehe, gab er, wie meist, zur Antwort: "Ich habe Schmerzen, doch ich mag nicht darüber reden. Der Herrgott hat das schon gut eingerichtet, dass den Alten was weh tut, damit sie den Jungen Platz machen."
Dann lenkte er seine Aufmerksamkeit, wie meist, auf andere Themen. Er interessierte sich vielseitig, von der Weltgeschichte über Natur, Technik, Politik und Religion bis zu neuesten Forschungen und Entwicklungen in der Gesellschaft. Zudem verstand er es, seine eigene Lebensgeschichte in spannende und unterhaltsame Anekdoten zu verpacken. All dies machte ihn, auch hier im Café, zu einem gern gesehenen Gast und willkommenen Gesprächspartner.
Manchmal verlor er allerdings seine innere Ruhe und Gelassenheit. Es ärgerte ihn, wenn seine Altersgenossinnen und -genossen nur noch um sich selbst kreisten. "Geh weiter, hast du denn heute kein anderes Thema als deine Krankheiten?" schimpfte er dann. "Es gibt doch so viel Interessanteres auf der Welt."
Was ihn zu etwas Besonderem machte, war sein echtes Interesse am Wohlergehen seines Gegenübers. "Jetzt habe ich aber genug erzählt. Wie geht es denn dir?" war eine seiner Lieblingsüberleitungen. Dies war für ihn keine achtlos hingeworfene Floskel, "weil man das halt fragt".
Er hörte gern zu und ergänzte ab und zu etwas aus seiner reichen Erfahrung. Selten urteilte oder wertete er. Die Menschen um ihn konnten sich zu jeder Zeit auf seine Wertschätzung und Unterstützung verlassen.
Jetzt wandte er sich seiner Gesprächspartnerin zu: "Also Mädchen, erzähl. Was macht die Arbeit? Wie geht es der Familie? Geht es dir gut?"
Nach einer ganzen Weile, in der er ab und zu genickt und nur wenig gesprochen hatte, beugte er sich vor. Er legte der Frau, der er aufmerksam zugehört hatte, die Hand auf den Unterarm und sagte: "Ich freue mich sehr mit dir, dass du in der Arbeit so glücklich und erfolgreich bist und eure Kinder ihren Weg so toll machen. Allen Respekt!
Lass mich zum Schluss noch eines sagen, auch wenn du es schon mal von mir gehört hast: Mit dir haben wir nicht einen Sohn verloren, sondern eine Tochter gewonnen. Eine bessere Schwiegertochter als dich könnte ich mir nicht vorstellen. Darüber bin ich sehr froh.
Und jetzt komm, Mädchen. Lass uns gehen."
Bild: jun.SU. - Fotolia.com